Maastricht scheitert
Die EU-Schuldenregeln wurden von wichtigen Mitgliedsstaaten über viele Jahre nicht erfüllt. Zuletzt hat die EU-Kommission sie ausgehöhlt statt kontrolliert.
Im Februar 1992 haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) durch den Vertrag von Maastricht zur Einhaltung von Konvergenzkriterien verpflichtet. Diese Kriterien hatten das Ziel, in der damals entstehenden Wirtschafts- und Währungsunion eine Harmonisierung der Leistungsfähigkeiten der einzelnen nationalen Wirtschaftsräume zu fördern und sollten für eine grundsätzliche wirtschaftliche Stabilität und Solidität der EU sorgen. Die Regelungen hierfür sind vertraglich festgehalten und wurden von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten ratifiziert. Doch das half wenig.
Im März 2020 aktivierte die EU-Kommission erstmals die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Drei-Prozent-Defizit-Grenze des Maastricht-Vertrags, die die Neuverschuldung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) begrenzen soll, wurde damit offiziell ausgesetzt. Das wirkte in vielen Mitgliedsländern wie ein Freifahrtschein für neue Rekorddefizite.
Jetzt steht fest: Die einzigen Länder der Europäischen Union, deren Defizit im Jahr 2020 kleiner als drei Prozent ausfielen, waren Schweden und Dänemark. In der übrigen EU nutzten die Politiker die neugewonnenen Spielräume, wie die teils schwindelerregenden Defizite zeigen: 209 Milliarden Euro betrug 2020 die Neuverschuldung in Frankreich (9,1 Prozent des BIP), 158 Milliarden Euro in Italien (9,6 Prozent), 145 Milliarden Euro in Deutschland (4,3 Prozent). Insgesamt beliefen sich die Defizite der EU-Staaten im vergangenen Jahr auf 923 Milliarden Euro.
Zugegeben, die außerordentliche Krisensituation in der Pandemie mag diese Rekorddefizite rechtfertigen. Nach Finanz- und Eurokrise war dies aber bereits der dritte Anlass, der in der jüngeren Vergangenheit die Verschuldung enorm in die Höhe trieb. Zwangsläufig stellt sich daher die Frage, ob sich mit Hilfe der Maastricht-Kriterien überhaupt die gewünschte Lenkungsfunktion bei der Verschuldung der Mitgliedsstaaten ausüben lässt; zumal es in der Vergangenheit schwerfiel, einen glaubwürdigen Sanktionsmechanismus zu identifizieren.
Regelmäßig wichtige Kriterien nicht erfüllt
Immer wieder haben EU-Mitgliedsländer auch in früheren Jahren die Maastricht-Kriterien nicht erfüllt. Insbesondere das EU-Schwergewicht Frankreich hatte von Anfang an seine Probleme mit der Drei-Prozent-Defizit-Grenze und fordert nun gemeinsam mit der EU-Kommission eine Abkehr von den EU-Schuldenregeln. Zwischen den Jahren 2000 und 2020 gelang es dem französischen Staat nur in fünf Jahren ein Defizit von weniger als drei Prozent zu erwirtschaften - seit 2008 sogar nur ein einziges Mal (vgl. Grafik).
Auch das zweite Maastricht-Kriterium, das einen Referenzwert für den Schuldenstand eines Mitgliedlandes von 60 Prozent des BIP vorsieht, wird insbesondere von den großen Nationen der EU regelmäßig nicht erfüllt. Per Ende 2020 wiesen 13 der 27 Mitgliedstaaten eine Staatsschuldenquote auf, die 60 Prozent des BIP überstieg. In sieben Fällen lag die Schuldenquote sogar bei mehr als 100 Prozent des BIP, darunter große EU-Volkswirtschaften wie Frankreich, Italien und Spanien.
Am Ergebnis der vergangenen Jahre lassen sich die Anstrengungen der EU-Kommission, auf ein deutlich verbessertes Haushaltsergebnis hinzuwirken, daher wohl kaum ablesen. Dass sich hieran in naher Zukunft etwas ändern dürfte, erscheint unwahrscheinlich. Eher im Gegenteil: Der langfristige EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 setzt mit geplanten Ausgaben von etwa zwei Billionen Euro neue Maßstäbe. Darin enthalten ist das rund 800 Milliarden Euro schwere Aufbauprogramm "Next Generation EU", das zunächst über eine Kreditaufnahme finanziert wird und milliardenschwere Transferleistungen an Mitgliedstaaten enthält.
Beim EU-Aufbauprogramm werden Regeln umgangen
Die Kredite dafür werden jedoch in den nationalen Haushaltskennzahlen nicht anteilig den Schulden der Mitgliedstaaten zugerechnet, sondern als Schulden der EU ausgewiesen. Statt Zins- und Tilgungszahlungen fallen auf Ebene der Mitgliedstaaten künftig höhere Beiträge an den EU-Haushalt an, die wiederum zur Tilgung der EU-Kredite genutzt werden (müssen). Praktisch gesehen ist die EU also eine Art Intermediär, der die Tilgungszahlungen der Mitgliedstaaten weiterleitet. Gleichwohl können die bestehenden Fiskalregeln, die auf die nationalen Haushaltskennzahlen bezogen sind, so erfolgreich umgangen und eine weitere Aufblähung der Schuldenquoten vorerst vermieden werden. Die EU höhlt somit de facto ihre eigenen Regeln aus.
Ist es also zu früh, um das Scheitern der Maastricht-Kriterien zu verkünden? Die meist folgenlose, wiederholte Nichteinhaltung von Obergrenzen bei vielen Mitgliedsländern in früheren Jahren lässt an einer glaubwürdigen Implementierung der Maastricht-Kriterien zweifeln. Daneben umgeht die EU-Kommission mit dem Aufbauprogramm "Next Generation EU" ihre eigenen Fiskalregeln, deren Einhaltung sie doch eigentlich überwachen muss. Vielleicht wäre es also der ehrlichste Weg, die Maastricht-Kriterien endgültig in der Schublade zu lassen, in die sie offiziell seit März 2020 verbannt wurden.
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Binder Manfred, MLS
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